Unser erstes Kind war schon immer etwas ganz Besonderes. Es war nicht geplant und machte uns zur Familie. Ohne die Schwangerschaft hätten mein Mann und ich uns wohl schon im ersten Jahr getrennt – aber schwanger oder mit Kind kämpft man einfach nochmal ganz anders um eine Beziehung. Im Nachhinein betrachtet sind wir natürlich überaus froh darüber.

 

Das erste Lebensjahr war recht unauffällig. Kind 1 war pflegeleicht, schlief mit vier Monaten durch und hatte im ersten Jahr maximal einen Schnupfen. Die ersten Worte sprach er mit sieben Monaten. Mit elf Monaten konnte er alleine laufen.
Mit einem Jahr kam er in die Kinderkrippe, wo er sich auch wohl fühlte. Nach einiger Zeit fiel den Erzieherinnen auf, dass Kind 1 immer sehr laut spielte und laut vor sich hin sang und brabbelte. Auf Ansprache reagierte er oft erst beim mehrmaligen Versuch oder auch garnicht. In Kombination mit der Tatsache, dass seit den ersten zwei oder drei Worten keine mehr dazu gekommen waren, wurde der Verdacht geäußert, dass mit dem Gehör eventuell etwas nicht stimmen könnte. Mit eineinhalb Jahren war das Kind also das erste Mal bei einem Pädaudiologen, der eine wiederholte Kontrolle empfahl. Nach unserem Umzug von Bayern nach Leipzig war Kind 1 dann regelmäßig im Abstand von sechs Monaten bei aufwendigen Hörtests. Irgendwie hatte er es immer geschafft, kurz vorher krank gewesen zu sein, sodass die Ergebnisse nicht aussagekräftig genug waren. Erst mit dreieinhalb Jahren bekamen wir die Nachricht, dass alles gut sei und wir nicht wiederkommen brauchten.


Die sprachliche Entwicklung holte er nach. Im Alter von zweieinhalb machte er diesbezüglich einen unglaublichen Entwicklungssprung und sprach dann wie seine Gleichaltrigen.

 

Kurz bevor er anfing, immer mehr zu sprechen, fing er an, laut zu schreien und zu brüllen. Teilweise brüllte er, weil es ihm einfach Spaß machte.
Die Lautstärke ist ihm geblieben. Wenn er heute laut schreit und brüllt, dann sagt er meist, dass er ein wildes Tier, Monster oder Dinosaurier spielt. Aber auch das normale Sprechen, Singen oder Spielen ist bei ihm stets recht laut. Er kann zwar auch mal leise da sitzen und ein Buch anschauen oder ein Puzzle zusammen bauen – aber wenn er mit Geräusch spielt, dann sehr laut. Aktuell ist Feuerwehr sehr hoch im Kurs. Er merkt selbst gar nicht, wie laut er ist. Selbst wenn man ihn darauf hinweist, wie laut er ist, und ihn bittet, leiser zu sein, schafft er dies nicht oder nur sehr kurz.


Was sich nicht besserte war die fehlende Reaktion auf Ansprache. Manchmal spricht man ihn zehn mal an und es passiert nichts. Auch, wenn man zusätzlich Körperkontakt aufnimmt, ihm zum Beispiel eine Hand auf die Schulter legt, passiert noch immer nichts. Er scheint wie in seine eigene Welt versunken zu sein. Das kann natürlich beim Spielen sein, das kann aber auch in Momenten sein, wo er am Esstisch sitzt und ins Leere starrt. Manchmal bekommt man aber auch nach dem x-ten Mal eine Antwort – diese passt dann aber nicht zur Frage, sondern dreht sich um ein ganz anderes Thema. Vermutlich das, wo er gerade gedanklich war.
Das ist natürlich im Alltag sehr anstrengend, zumal wir ja auch noch zwei kleinere Kinder haben. Aber das wäre noch irgendwie machbar. Nur leider gibt es nunmal auch Bereiche, wie zum Beispiel im Straßenverkehr, wo das Ganze einfach auch schnell sehr gefährlich werden kann. Ich traue mich nicht, ihn mit dem Laufrad in die Kita fahren zu lassen, da er durch seine Geschwister einfach nicht meine ungeteilte Aufmerksamkeit haben kann.

 

Auch der Umgang mit Anderen ist nicht immer leicht. Das Gefühl von Nähe und Distanz, für Grenzen Anderer, scheint ihm manchmal zu fehlen. Wenn er andere Kinder umarmt und diese Nein sagen, weil sie es nicht wollen, wird das oft nicht beachtet. Gerade im Umgang mit Kind 2 kennt er da keine Grenzen – ständig ist er am Drücken, Drängeln, Schubsen, übermäßig stürmisch Umarmen und inzwischen auch mal Abknutschen. Dass sein kleiner Bruder ihn dabei oft versucht wegzuschieben, deutlich Nein sagt und sich zu wehren versucht, stört ihn dabei leider herzlich wenig. Auch für ihn noch recht fremde Erwachsene werden inzwischen, zumindest bei uns zu Hause in seiner gewohnten Umgebung, oft belagert – er steigt auf ihren Schoß und es fallen sämtliche Hemmungen. Bis vor einem halben Jahr war er Erwachsenen gegenüber eher zurückhaltend.

 

Mit seinen fast vier Jahren ist er bisher nicht ansatzweise trocken – was an sich erstmal kein Problem für uns ist. Mein Mann und ich waren uns von Anfang an einig, dass wir den Kindern diesbezüglich die Zeit geben, die sie brauchen. Aber: Kind 1 würde gern. Er hatte in den letzten 1,5 Jahren immer wieder Phasen, wo er ohne Windel sein wollte, wo er auch auf Toilette ging - aber eben nicht weil er musste, sondern weil er auf Toilette gehen wollte, wie die anderen Kinder auch. In der Toilette landete so gut wie nie etwas und er hat ständig eingepullert. Wenn das Kind ohne Windel sein wollte, dann war das Kind auch ohne Windel - aber dann ging eben alles in die Hose. Das hat ihn selbst zunehmend frustriert. Inzwischen möchte er wieder immer eine Windel, weil er nicht mehr einpullern möchte.
Vor zwei Tagen ist seine Windel ausgelaufen und auf die Nachfrage, warum er nicht Bescheid gesagt hat, gab er halb weinerlich die Antwort "Weil ich nicht auslaufen möchte". Es bricht mir teilweise echt das Herz!


Veränderungen zu akzeptieren fiel ihm schon immer schwer. Schon als Baby gehörte er zu den Kindern, die drei Tage lang schlecht gelaunt waren, wenn er mal einen Tag deutlich aus seinem gewohnten Tagesrhythmus gerissen wurde. Bei großen Veränderungen wie zum Beispiel Umzug oder Kita-Eingewöhnung reagierte er stets sogar körperlich mit Fieber und Kranksein. Aber auch bei kleineren Veränderungen, wenn zum Beispiel beim morgendlichen Ankommen in der Kita überraschend viel Gewusel ist, kann er damit schlecht umgehen. Er steht dann wie angewurzelt da, schaut und tut nichts mehr. Das eigene Umziehen ist dann schnell vergessen.

 

Schon zu Beginn seines zweiten Lebensjahres hatte ich mal kurz den Verdacht, er könnte autistische Züge haben – habe diesen Verdacht dann aber schnell wieder verworfen.
Als es vor circa einem halben Jahr zum ersten Mal vorkam, dass er bei uns zu Hause das Gefühl von Distanz gegenüber fremden Erwachsenen verlor, kam der Verdacht wieder aus den Tiefen meines Hinterkopfes hervor. Ich begann zu recherchieren und mich zu belesen. Im Zuge dessen wurde mir klar, dass es viele kleine Dinge gibt, die mir bei ihm aufgefallen sind und die ich selbst nie mit Autismus in Verbindung gebracht hätte, die aber durchaus damit in Verbindung stehen können. Er hat eine sehr hohe Schmerztoleranz, kaum Gefahrenempfinden, ist lange oft auf Zehenspitzen gelaufen, reiht seine Spielzeuge gerne in einer langen Reihe auf, braucht bestimmte Ordnungen, … sind nur ein paar Beispiele.

 

Vor einigen Monaten wandte ich mich ans Sozialpädiatrische Zentrum, das für die Diagnose solcher Störungen zuständig ist. Es hat lange gedauert, aber inzwischen sind wir dort in Behandlung und hatten gestern den ersten Termin – es werden noch so einige Termine und eine umfangreiche Autismusdiagnostik folgen. Aber schon nach dem ersten Termin war klar: nach allem, was die Ärztin gesehen, von mir in der Anamnese gehört und in den Entwicklungsberichten gelesen hat, hat er aus ihrer Sicht auf jeden Fall eine Wahrnehmungs- und Verhaltensstörung. Auch den Verdacht auf Autismus hält sie für wahrscheinlich – da braucht es aber umfangreichere Untersuchungen.

 

Dass etwas in seiner Wahrnehmung nicht stimmt, war mir bereits vorher schon klar. Die Wahrnehmungsstörung erstreckt sich auf den Umgang mit Anderen (Nähe und Distanz) und den eigenen Körper (Harndrang, Lautstärke, Filtern von Reizen). Was die Verhaltensstörung angeht, werde ich erstmal die genaue Diagnose abwarten. Bei dem Wort „Verhaltensstörung“ drängt sich mir erstmal die Frage auf – was ist normales Verhalten, ab wann ist das Verhalten gestört und wer legt das fest?!


Auch wenn es mir vorher schon klar war, war dieses Fazit der Ärztin dennoch ein Schlag für mich.
Zumal ich mir jetzt selbst große Vorwürfe mache. Die Schwangerschaft mit Kind 1 war zwar körperlich unauffällig, psychisch jedoch ein großer Höllentripp mit vielen Tränen, Sorgen in allen Lebensbereichen bis hin zu Selbstmordgedanken. Ich vermute, dass das vielleicht nicht der alleinige Grund dafür ist, aber einen Teil dazu beigetragen hat.


Ich bin gespannt, was da noch auf uns zu kommt. Er ist so, wie er ist. Es geht letztlich nur darum, dem Ganzen einen Namen zu geben, und die passenden Hilfsangebote zu finden.

Er wird immer mein ganz besonderes Kind bleiben – das ich, genauso wie seine Brüder, über alles liebe.

Mitte Dezember 2017